Hilfreich im Umgang Ängsten:
Mein Gehirn besser verstehen
Gastbeitrag von Dr. Reiner Löffler
Folgende Einsichten haben mir sehr geholfen ruhiger und gelassener zu werden:
1. „Nachts kommen die Geister“
unser Gehirn hat eine Schutz- und Alarm Funktion, - die Amygdala. Dieses Organ läuft nachts auf Hochtouren, weil evolutionsgemäß die Raubtiere auch nachts auf Beutezug gehen und unser Gehirn die Gefahren in jedem Rascheln und in den kleinsten Anzeichen sieht. Darum ist es nicht verwunderlich, dass wir nachts aufwachen mit Sorgen, besonders bezüglich Überlebensfragen wie zum Beispiel „wie lange reicht mein Geld ohne dass ich an Hunger sterben muss - eine Woche oder zwei?“ etc. Das Bewusstsein, dass unser Gehirn gerade im angstbereiten Nachtmodus läuft hilft unserem Verstand die Gedanken richtig einzuordnen.
Aufschreiben der Angstgedanken hilft als Maßnahme, die Ängste aus dem Kopf auf das Papier zu bekommen und für den nächsten Tag einem ruhigen Blick zugänglich zu machen.
2. „Glaube nicht jeden deiner Gedanken“
Dieser hilfreiche Satz knüpft direkt an das vorher Gesagte an. Als Überlebensorgan produziert unser Gehirn laufend Gedanken - im Prinzip nach unkontrolliertem Zufallsprinzip auf biochemischen Prozessen basierend. Oder weißt du deinen nächsten Gedanken? Dabei sind natürlich auch jede Menge Irrläufer - wohl die Mehrzahl der Gedanken. Wie aber damit umgehen? Hilfreich ist das Bild von Wolken die auftauchen und vorüberziehen - wenn wir gelassen sind, dann lassen wir sie auch wieder ziehen und machen uns nicht fest an einem dieser nicht-hilfreichen Gedanken. Es genügt ihn zur Kenntnis zu nehmen und einfach mit „ah sehr interessant“ zu kommentieren. Weiteres Gewicht und vor allem Energie bzw. Zeit sollten wir diesem Gedanken nicht schenken - bzw. uns nicht von ihm „nehmen lassen“.
3. „Das Gehirn sucht Muster und Bestätigung“
Ausgehend von dem vorigen Punkt der zufallsgesteuerten „Gedanken-Blitze“ will das Gehirn diese Hypothesen - die es uns als Wahrheit suggeriert nach dem Motto „was ich denke ist wahr“ - bestätigen und sucht entsprechend Beweise in der Umwelt. Damit wird ein massiver Filter zwischen neutralem „Es ist wie es ist“ und dem gedanken-gefärbten „ich wusste doch, dass es so ist“ geschaltet. Wir nehmen nicht mehr die Umwelt wahr „wie sie ist und denken dann darüber nach“ im Sinne von „Durchatmen und erst dann Bewerten, und entscheiden ob Aktion notwendig ist oder nicht“, sondern die Umweltreize dienen als Beweise für unsere vorgefassten Ansichten und werden dann auch für sofortige Reaktion freigegeben. Wir werden quasi zu einem emotionalen Automaten - wir degradieren uns selbst. Reiz und Antwort ohne kritisches Nachdenken wird zu unserem Schicksal.
4. „Das Gehirn addiert Stressfaktoren auf“
Jeder kennt das Sprichwort „das bringt jetzt das Glas zum Überlaufen“ und genau das ist der Punkt den wir verstehen müssen, um die dann erfolgende emotionale Explosion zu vermeiden. Die nicht weggeräumten Socken, nicht entfernten Rasierstoppeln im Waschbecken etc. werden als Stressfaktoren internalisiert - man sagt nichts. Aber das heißt nicht, daß jeder Vorgang auch „nichts mit uns macht“. Jeder stressige Vorgang wird gespeichert und bringt unser Stressniveau mehr in Richtung Toleranzgrenze - solange bis diese Toleranzgrenze dann überschritten wird und die emotionale Explosion auslöst. Diesen Aufaddierungs-Mechanismus sollten wir im Hinterkopf bewahren und dann beim Auftreten solcher Einzelvorgänge einen Selbstschutz auslösen: Entweder wir arbeiten den Stress direkt ab indem wir uns den Vorgang als stressbesetzt bewusst machen, ansprechen oder bagetallisieren oder durch körperliche Aktivitäten abbauen (Durchatmen, joggen, Liegestütz o.ä.). Wichtig ist zu fühlen - in der Regel sagt uns das unser Körper - wann kommen wir zur Toleranzgrenze und vorher einzugreifen.
5. „Das Gehirn bezieht alles auf uns persönlich“
Ausgehend der Gehirnfunktion als Schutz-Organ ist das auch sinnvoll und verständlich. Aber eben nicht immer bzw. meistens nicht richtig und nicht hilfreich. Wenn uns jemand anmotzt, uns bzw. unsere Leistung nicht achtet, uns zurechtweist etc. dann sind wir oft nur zufälligerweise in der Schußlinie. Das Problem liegt nicht bei uns, sondern bei dem anderen Menschen. Es gilt sich klarzumachen „verletzte Menschen verletzen Menschen“. Also nicht sofort zurückschlagen und dem emotionalen Schlagabtausch freien Lauf lassen, sondern Durchatmen, nicht reagieren, dankend zur Kenntnis nehmen oder neutral kommentieren „sehr interessant, werde ich darüber nachdenken“ - aber Achtung nicht dabei provokant wirken. Die Gegenwart solch toxischer Personen meiden.
6. „Ich bin nicht meine Gedanken“
Bewusst und achtsam mit unseren Gedanken umzugehen ist hilfreich. Das können wir indem wir unser ICH mit einem BEOBACHTER gleichsetzen. Ein Beobachter unserer Gedanken-Wolken und wie sie dahinziehen und kommen und gehen. Da wir uns dann nicht mehr mit den Gedanken identifizieren sind wir in der Lage diese nach den Kriterien „Hilfreich“ und „Wahr“ zu beurteilen. Unser Beobachter bleibt ruhig wie die Oberfläche eines Sees in dem sich die Wolken und die Landschaft spiegelt. Wird unser Beobachter aber aufgewühlt kann der die Wolken und die Landschaft nicht mehr unverzerrt wahrnehmen. Damit werden auch die Entscheidungen verzerrt und in der Regel nicht mehr hilfreich sein.
7. „Das Gehirn sucht sich Beschäftigung“
Oft ist unsere Gegenwart nicht so spannend oder anregend, daß unser Gehirn in der Gegenwart bleibt. Es schweift ab - entweder die Vergangenheit mit „ach hätte ich doch so und so entschieden etc.“ oder in die Zukunft mit potentiellen Gefahren wie „ich werde verhungern“. Mark Twain hatte es mal so ausgedrückt: „Ich habe in meinem Leben viele schlimme Gefahren durchlebt. Zum Glück sind nur die wenigsten eingetroffen.“ Wir sollten aber nicht auf den Irrweg geraten und unsere Gedanken kontrollieren zu wollen oder uns umprogrammieren zu wollen mit positiven Gedanken. Das funktioniert erstens nicht und zweitens führt es zu enormen zusätzlichen Stress frei nach dem Motto „ich bekomme ja gar nix hin - nichtmal meine Gedanken“. Nehmen wir unsere Gedanken wahr, aber nicht zu ernst. Dann können wir mit diesen Gedanken umgehen wie im vorigen Punkt beschrieben.
8. „Muss Vergangenheit aufgearbeitet werden?“
Um es gleich vorweg zu nehmen - Nein! - muss sie nicht. Das sich gedanklich in belastende Situationen hinein zu navigieren und sie wieder und wieder zu rekapitulieren ist nicht hilfreich. Das Gehirn bestätigt den Overload dieser Situation erneut und hält die alten Gefühle fest, als wäre es die Gegenwart. Wichtig ist vielmehr, selbstzerstörerische Gefühle zu erkennen und überlegen, was kann ich tun, damit es mir besser geht?
Besser: Loslassen.
Kommen schmerzhafte Erinnerungen aus der Vergangenheit hoch: Freundlich begrüßen, sich fragen, was braucht dieser Teil meiner selbst, der sich gerade ängstigt? Kann ich etwas Trost oder Liebe dorthin schicken? Und dann wieder loslassen.
Und dann:
In den Moment im hier und jetzt zurückkehren. Erst mal einfach wahrnehmen, was gerade passiert. "Oh, heftige Erinnerung." Beobachten: Was ist meine emotionale Reaktion und auf was reagiere ich gerade? Nachdenken: Gibt es hier einen Grund, warum die Erinnerung gerade kam? Manchmal gibt es keinen. Wir sind halt schlecht drauf, müde, gestresst, überfordert. Oder es gibt es einen, wie "Ich bin in einer Beziehung, damit hatte ich schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit."
Was brauche ich, um mich im hier und jetzt gut zu fühlen? Wie kann ich gestalten?
Wir sind auf der Erde um zu lernen - also wie können wir trotz dem schmerzhaft Erlebten lernen und unsere Gegenwart und Zukunft besser gestalten? Das ist die hilfreiche Frage, - außerdem - auch wenn einige Dinge blöd gelaufen sind in unserem Leben - wir brauchen deswegen nicht alles Bisherige entwerten.
9. „Unser Gehirn nimmt nicht gerne Verantwortung an“
Wir spielen gerne den Verantwortungsball ins Feld der Ehefrau (die mich glücklich machen soll), der Eltern (die mich hätten besser erziehen sollen und stattdessen Ängste mitgegeben haben), der Schule (die mir bessere Noten verweigert hat), dem Hund (der nicht gehorcht) etc. Unser Gehirn läuft zur Höchstform auf, wenn wir Schuldige finden müssen. Was auch immer passiert - passiert, denn wir können die wenigsten Dinge kontrollieren. Aber was wir kontrollieren können ist wie wir damit umgehen und das Beste daraus machen. Und das ist alleinig unsere persönliche Verantwortung. Also sollten wir die Verantwortung annehmen und statt unserem Gehirn die Frage nach den Schuldigen zu stellen, sollten wir uns fragen, was ist die hilfreichste Vorwärtsstrategie. Da ist unser Gehirn in seinem Element: Probleme zu lösen.
10. „Wir können mehr beeinflussen als uns klar ist, auch Gefühle“
Oft sind wir in einem unbewussten Flow von Reiz und Reaktion. Insbesondere unsere Gefühle scheinen uns unausweichlich. Aber die gute Nachricht ist: Wir können auch unsere Gefühle beeinflussen. Wichtig ist, ein wenig Abstand einzuführen: Ich bin nicht meine Gefühle.
Gefühle haben körperliche Auswirkungen. Wir können die Gefühle fühlen im Körper - als Spannung in der Magengrube, als trockenen Hals, enge Brustgegend etc. Wenn ich (der Beobachter) diese Anzeichen fühle (wenn er achtsam im Hier und Jetzt ist), dann kann ich entscheiden, ob ich diese Emotionen will oder nicht. Ist das weiterführen/zulassen dieser Emotionen für mich hilfreich oder nicht. Ich kann entscheiden: ich bin glücklich und zufrieden und dankbar (für alles was das Leben mir bietet).
Ein Schäfer wurde einmal gefragt, was für Wetter es morgen geben wird. Er antwortete, es wird gutes Wetter geben. Der Frager wollte wissen, woher der Schäfer das wisse. Der Schäfer antwortete, dass jedes Wetter ein gutes Wetter sei und er das Wetter nicht mehr als gut oder schlecht bewertet.